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Eine bemerkenswerte Frau - Menschen mit Behinderung setzen sich mit Euthanasie Verbrechen auseinander

Kernen-Stetten, 12. April 2022 – In der Diakonie Stetten setzten sich Menschen mit Behinderung regelmäßig mit den Verbrechen der Euthanasie auseinander. Thema ist dabei auch eine bemerkenswerte Frau, die sich als Ärztin für das Leben der ihr anvertrauten Menschen mit Behinderung in der damaligen Anstalt Stetten eingesetzt hat. Am 15. April wäre Dr. Leonie Fürst 110 Jahre alt geworden.

„Dr. Leonie Fürst war eine bemerkenswerte Frau. Seit ich bei der Recherche für den Unterricht im Buch „Das Schloss an der Grenze“ von Martin Kalusche auf sie gestoßen bin, lässt sie mich nicht mehr los“, berichtet Sonderschulpädagoge Philip Jähne, vom Sonderpädagogischen Bildungszentrum und Beratungszentrum (SBBZ) Theodor-Dierlamm-Schule „ich war erstaunt, dass in der Diakonie Stetten wenig über die Frau bekannt war, die sich an der Seite von Ludwig Schlaich für die ihr anvertrauten Menschen mit Behinderung eingesetzt hat. Ihr Beispiel regt zu Gesprächen über Mut und Zivilcourage heute an. Deswegen setzte ich mich dafür ein, dass ihre Geschichte bekannter wird.“

Im Jahr 1940 kam Dr. Leonie Fürst mit nur 27 Jahren als „Kriegsnotdienstverpflichtete“ in die damalige Anstalt Stetten, weil die männlichen Ärzte kriegsbedingt ausgefallen waren. Ein halbes Jahr wirkte sie als stellvertretende Anstaltsärztin, genau in der Zeit der sog. „Aktion T4“, der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus. In „grauen Busse“ wurden insgesamt 336 Menschen mit Behinderung aus der damaligen Anstalt Stetten abgeholt und in den Tötungsanstalten in Grafeneck und Hadamar ermordet. Sieben Mal kamen die gefürchteten grauen Busse nach Stetten. Gemeinsam mit Anstaltsleiter Ludwig Schlaich diskutierte und verhandelte Dr. Fürst mit den Transportleitern um jeden einzelnen Menschen, erstellte Gutachten im Akkord, in denen sie die ihr Anvertrauten so positiv und leistungsfähig wie nur möglich beschrieb und fuhr auch persönlich nach Stuttgart ins Innenministerium um den Abbruch der Transporte zu erreichen.

In den Remstal Werkstätten der Diakonie Stetten werden regelmäßig Projekte und Fortbildungen zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderung angeboten. Auch in der Theodor-Dierlamm-Schule der Diakonie Stetten wird das Thema immer wieder aufgegriffen. „Wir können das Thema nicht in jedem Jahr behandeln, da unsere Schülerschaft sehr heterogen ist und wir von Klasse zu Klasse sehen müssen, ob die Jugendlichen dieses Thema kognitiv und emotional verarbeiten können,“ berichtet Sonderschullehrer Philip Jähne. Auch seien die Schülerinnen und Schüler auf besondere Weise betroffen, und bei der Behandlung des Themas komme auch die Frage auf, was mit den ihnen passieren würde, wenn es heute Euthanasie-Verbrechen gäbe. „Die Schüler, die das Thema im Unterricht besprechen konnten, fanden es durchweg wichtig und richtig, sich damit auseinanderzusetzen.“ ergänzt Sonderschulpädagogin Simone Oesterle.

Dem Engagement von Phillip Jähne ist es zu verdanken, dass das, was Dr. Martin Kalusche über Leonie Fürsts Wirken in der Anstalt Stetten herausgefunden hat, zunehmend auch im Unterricht thematisiert werden kann und es mit ihr eine positive Identifikationsfigur gibt. „Mir ist es ein Anliegen, dass mehr Menschen von dieser mutigen Frau erfahren“ erklärt Phillip Jähne.

Auch Mitarbeitende mit Behinderung in den Remstal Werkstätten der Diakonie Stetten beschäftigen sich regelmäßig mit dem Nationalsozialismus und den Verbrechen der Euthanasie und neuerdings auch mit Dr. Leonie Fürst. „Wir legen großen Wert darauf, selbstbestimmte Bildungsangebote für Menschen mit Behinderung zu schaffen,“ erzählt Christa Rommel, Referentin für Bildung und Qualifizierung in den Remstal Werkstätten der Diakonie Stetten. „das Interesse am Thema Euthanasie ist bei unseren Mitarbeitenden mit Behinderung groß.“ Verknüpft mit der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus sei immer die Frage nach Widerstand und Zivilcourage heute. „Dass eine so junge Frau wie Leonie Fürst in der damaligen Zeit den Mut aufgebracht hat, mit den Transportleitern der „grauen Busse“ zu diskutieren und sogar persönlich ins Innenministerium gefahren ist um den Abbruch der Transporte zu fordern ist beeindrucken und inspirierend. Ihr Beispiel zeigt, dass es immer Menschen gab, die sich für Menschen mit Behinderung eingesetzt haben und es macht Mut, sich selbst gegen Ungerechtigkeiten zu engagieren,“ berichtet Christa Rommel.

Ein Beispiel für Engagement heute sind Iris Linge und Simon Brög, zwei Mitarbeitende der Remstal Werkstätten, die regelmäßig Vorträge zum Thema Euthanasie unter anderem für Schulklassen halten. „Dass Menschen, die auf besondere Weise betroffen sind, aus Ihrem eigenen Blickwinkel über dieses Thema berichten, leistet einen wichtigen Beitrag zu Erinnerung und Gedenken,“ so Christa Rommel. „Ich wünsche mir sehr, dass nicht nochmal passiert, was damals war“. begründet Iris Linge, die in den Remstal Werkstätten arbeitet, ihre Motivation für die Vorträge. Für die Zukunft sind weitere öffentliche Vorträge unter anderem am Stein des Gedenkens auf dem Gelände der Diakonie Stetten geplant.

Ob und wie viele Menschen durch Dr. Leonie Fürst vor dem Tod in Grafeneck gerettet werden konnten, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen. Viele Menschen, die zunächst von den Deportationslisten gestrichen wurden, tauchten später wieder auf den Listen auf. Auch nach ihrer kurzen Tätigkeit in Stetten setzte sich Leonie Fürst für ihre Mitmenschen ein und ging dabei unkonventionelle Wege. Sie eröffnete 1949 eine Allgemeinmedizinische Praxis in Ailingen am Bodensee, wo sie als weibliche Ärztin zunächst auf Misstrauen stieß. Nach wenigen Jahren war die Praxis gut besucht. Wenige Jahre später gründete sie zudem ein privates Entbindungsheim und war hier eine der ersten, die das sog. „Rooming-in“ ermöglichte, bei dem Neugeborene, entgegen der damaligen Lehrmeinung, nach der Geburt bei ihren Müttern blieben. Für ihr Engagement im Zusammenhang mit dem Entbindungsheim wurde ihr im Jahr 1987 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

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